Verfassungsrechtliche Bindungswirkung: Wann das BVerfG-Urteil nicht das letzte Wort hat

Ein juristisches Plädoyer: Dr. Martin Clausnitzer beleuchtet kritisch, warum der BFH eine erneute verfassungsrechtliche Prüfung einer bereits für verfassungswidrig erklärten Norm hätte vornehmen sollen.

Die Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm ist eine weitreichende Feststellung. Doch was passiert, wenn ein Gericht eine Norm bereits einmal für verfassungswidrig erklärt hat, der Gesetzgeber aber keine vollumfängliche Korrektur vornimmt? Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte Teile von §13b ErbStG 2009 als unvereinbar mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 1 GG) erklärt, die Norm aber zur Vermeidung von Steuerausfällen vorübergehend für weiter anwendbar erklärt.

Der Bundesfinanzhof (BFH) stand vor der Frage, ob eine solche, bereits einmal beanstandete Norm, erneut einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen werden kann, wenn die neue Rüge auf anderen Gründen beruht. Er verneinte dies und verweigerte eine weitere Prüfung. Der vorliegende Beitrag vertritt die Ansicht, dass diese Haltung eine zu enge Auslegung des §31 BVerfGG darstellt.

Begrenzte Bindungswirkung bei Verfassungsentscheidungen

Die Bindungswirkung einer Verfassungsentscheidung ist nicht absolut. Sie erstreckt sich zwar auf alle Gerichte und Behörden, aber primär nur auf den vom BVerfG konkret festgestellten Sachverhalt und die tragenden Gründe der Entscheidung. Wenn eine erneute Rüge der Verfassungswidrigkeit andere Teile der Norm oder eine andere Konstellation betrifft, ist eine neue Prüfung denkbar.

Im vorliegenden Fall beanstandete das BVerfG eine Überprivilegierung (zu weite Begünstigung), während die Kläger eine Unterprivilegierung (ungerechtfertigter Ausschluss von der Begünstigung) rügten. Das waren zwei unterschiedliche Sachverhalte.

  • Verletzung von Grundrechten: Die Ablehnung einer erneuten Prüfung durch den BFH verstößt aus mehreren Gründen gegen die Grundrechte der Kläger. Sie stellt eine erneute ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, verletzt das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
  • Prozessökonomie: Eine sofortige Überprüfung hätte zudem eine schnellere Klärung der Rechtslage ermöglicht und den Klägern die Möglichkeit eröffnet, ihre Rechte zu wahren.

Ausblick: Konsequenzen für die Praxis

Das OLG hat die Revision gegen diese Entscheidung zugelassen, was bedeutet, dass der Bundesgerichtshof die Möglichkeit hat, seine Entscheidung zu revidieren. Für betroffene Steuerpflichtige ist es wichtig, die Entwicklung der Rechtsprechung im Auge zu behalten. Das Verfahren ist derzeit unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1493/21 beim BVerfG anhängig.

Quellenangabe:

Dr. Martin Clausnitzer, LL.M.: „Die doppelte Verfassungswidrigkeit des § 13b ErbStG 2009: Plädoyer für eine begrenzte Bindungswirkung“, ZEV 2021, 612 ff.§ 13b Erbschaftsteuergesetz (ErbStG) 2009.§ 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG).Artikel 3, 19, 20 Grundgesetz (GG).

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